Porträt Ursula Brackmann

Ursula Brackmann beim 50. Jahrestag des VdÜ in Wolfenbüttel, Foto: Thomas Wollermann, 2004

Ich gehe langsam aus der Zeit heraus,
in eine Zukunft jenseits aller Sterne.
Und was ich war und bin und immer bleiben werde, geht mit mir,
ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum

steht über der Todesanzeige von Ursula Brackmann, die am 27. Oktober 2019 einundneunzigjährig verstarb. So sanft insistierend diese Zeilen von Hans Sahl – die Ursula Brackmann sich gewünscht hat – uns dazu einladen, der Stille solchen Vergessenwerdens Raum zu geben, sei es uns, die wir jetzt durch ihren Tod aufgeschreckt wurden, vergönnt, noch einmal die Erinnerungen an „Madeleine“ wach und lebendig werden zu lassen.

In der Geschichte des Übersetzerverbands erscheint Ursula Brackmann in der Pionierzeit Anfang der 1960er-Jahre. In jener Zeit, in der Präsident Helmut M. Braem, der „Manager des Aufbruchs“, aus dem kleinen Zirkel von 135 Mitgliedern einen veritablen Verband mit 400 Mitgliedern macht, tritt Ursula Brackmann 1965 dem VdÜ als förderndes Mitglied bei und wird vier Jahre später zur geschäftsführenden Schriftführerin ernannt. Realiter war sie das laut Braem schon seit Jahren gewesen: seit seiner Wahl 1964 hatte sie ihm aus Freundschaft und persönlichem Engagement heraus quasi als Sekretärin zur Seite gestanden.

1966 ist sie eines der sieben Gründungsmitglieder des Freundeskreises der Literaturübersetzer. Das Ziel dieses Fördervereins ist es, Literaturübersetzerinnen und -übersetzer direkt zu fördern, um ihre geistigen und materiellen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dieses Ziel könnte wie ein Spruchband über dem gesamten Leben von Ursula Brackmann stehen.

Schon in einem der ersten Vorhaben des Freundeskreises, eine Fachtagung zum Austausch und zur Fortbildung von Literaturübersetzern zu schaffen, engagiert sich Ursula Brackmann auf Dauer und nachhaltig: Rund 30 Jahre lang wird das „Esslinger Gespräch“ im Wesentlichen von Ursula Brackmann vorbereitet und organisiert.
Bergneustadt – die nächtliche Käseplatte – Zimmerverteilung – der Freitagseintopf – allein Begriffe wie diese rufen bei denen, die irgendwann daran teilgenommen haben, Erinnerung an Ursula Brackmann wach, sie, die zentrale Figur „unseres Bergneustadt“, die „Strenge und Warmherzigkeit“ mit einander verband und „die Seele von et Janze“ war.

Als in den 70er-Jahren der Übersetzerverband die Nähe zum 1969 frisch gegründeten Schriftstellerverband VS festigt und mit ihm zusammen in die Industriegewerkschaft Druck und Papier eintritt, ist Ursula Brackmann mittendrin: zehn Jahre lang, von 1975 bis 1985 ist sie Bundesgeschäftsführerin des Verbands Deutscher Schriftsteller, dem nun auch der VdÜ als „Bundessparte“, ein VS-Landesverband ohne Land, angehört. Ihr Büro befindet sich im Haus der IG Druck und Papier in der Stuttgarter Friedrichstraße. Die enge Beziehung zwischen Übersetzern und Autoren einerseits und Übersetzern und Gewerkschaft andrerseits sind die Dreh- und Angelpunkte in ihrem Denken und Verhalten. Der Urhebergedanke und das Urheberrecht in der Politik des Verbands deutscher Schriftsteller prägen ihre politischen Erwartungen ebenso wie die unerschütterliche Hoffnung auf die Solidarität der gesamten Gewerkschaft mit ihrem kleinsten Mitglied, der „Bundesparte Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller in der IG Medien“: „Wie, wenn sie alle einmal mit und für uns streiken würden!“, war der verführerische Gedanke.

Gleichzeitig ist Ursula Brackmann bis 1991 ehrenamtlich als geschäftsführende Schriftführerin, später als zweite Vorsitzende im Vorstand des Übersetzerverbands „VdÜ/Bundessparte Übersetzer“ aktiv. In die Jahre ihrer Tätigkeit im Vorstand fallen unter anderem das Erscheinen des Übersetzerverzeichnisses, die Erfindung der Honorarumfrage, die Anstrengungen um Tarifverhandlungen, der erste Normvertrag mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels, die Gründung des Europäischen Übersetzer-Kollegiums in Straelen, die bei der Bertelsmann-Stiftung akquirierten Fortbildungsseminare für Übersetzer und Autoren, die neu geschaffenen Berufskundeseminare für Übersetzer, jährliche Pressekonferenzen auf der Frankfurter Buchmesse, bei der auch kräftige Worte fielen („Übersetzer – Schindmähren der Kultur!“), die Übersetzer-Demo vor der Paulskirche in Frankfurt am Main, in der Polnisch-Übersetzer Karl Dedecius den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennimmt, die Kollegen aber draußen vor der Tür bleiben müssen. Wer der drei großen B’s (Klaus Birkenhauer, Otto Bayer und Ursula Brackmann) welche Idee hatte, war nach außen nicht immer erkennbar. Offensichtlich jedoch war immer die bedingungslose kollegiale Unterstützung, die Ursula Brackmann, die Macherin, leistete: ihre bewundernswerte Fähigkeit, Geplantes zu organisieren und durchzuführen, die Akteure zusammenzuhalten und so die Ideen umzusetzen.

2002 wird Ursula Brackmann als langjährige Geschäftsführerin des Verbands deutscher Schriftsteller, als Vorstandmitglied des VdÜ sowie Mitbegründerin und über Jahrzehnte eine der eifrigsten Mitstreiterinnen des Freundeskreises in Anerkennung ihrer herausragenden Verdienste in Stuttgart mit dem Verdienstkreuz am Bande geehrt.

2008 verabschiedet sich Ursula Brackmann, 80-jährig, in den Ruhestand. Ihre Verdienste alle aufzuzählen, würde einen dicken Band füllen, sagt Otto Bayer in seiner Rede zu Madeleines 80. Geburtstag, und könne „ihrer Persönlichkeit nicht gerecht werden“. 

Tatsächlich sind es die vielen ganz persönlichen Erinnerungen derer, die ihr begegnet sind, die Bände füllen würden: Geschichten davon, wie Ursula Brackmann Kolleginnen und Kollegen in existenziellen Nöten half, sie bemutterte, wie sie Verzagte aufrichtete, aber auch „mit Stimmgewalt und auf burschikose Art“ Berufsanfänger/innen „auf den rechten Weg schubste“, wie sie gebetsmühlenartig dazu aufforderte, niemals für die Schublade zu übersetzen, sich bei der VG Wort anzumelden, sich beim Autorenversorgungswerk um die spätere Rente zu kümmern, ihr mehr als waches Interesse an allem, was das Übersetzen betraf, ihr oft drastischer Witz, ihr Humor, und wie sie erzählen konnte…

All diese Erlebnisse, Eindrücke und Bilder derer, die sie kannten, zusammengenommen werden die Erinnerung an Ursula Brackmann lebendig halten. 

 

Helga Pfetsch ist seit 2014 Präsidentin des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen. Von 1997 bis 2005 war sie Vorsitzende des VdÜ.

Renate Birkenhauer ist Verlegerin der „Straelener Manuskripte“, Mitarbeiterin und Autorin von Wörterbüchern sowie Vize-Präsidentin des EÜK. Ihre Grabrede auf Ursula Brackmann können Sie hier nachlesen.